Michaelstag 2022

Michaelstag 2022

Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser im Wallfahrtsort Banneux (Bistum Lüttich)

zum Michaelstag der deutschen Pilger,

Sonntag 25. September 2022.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

Liebe Schwestern und Brüder,

Es gibt ein geistliches Kinderlied, das unseren heutigen Pilgertag hier in Banneux deuten kann. Es beginnt so:

„Wenn du singst, sing nicht allein, steck andre an, singen kann Kreise ziehn. Zieh den Kreis nicht zu klein, zieh den Kreis nicht zu klein“. Banneux ist ein kleiner Ort in einem kleinen europäischen Land, in Belgien. Aber von hier aus hat die Schöne Dame, die Mariette Beco hier vor bald 100 Jahren achtmal erschienen ist, dafür gesorgt, dass wir und alle, die seitdem als Pilger hierher kommen, den Kreis nicht zu klein ziehen: Von hier aus können wir in unserem Leben neu erkennen und ergreifen, wie weit Gott selbst unser Leben macht.

Schauen wir mit diesem Gedanken auf die Botschaften der Erscheinung, die Mariette Beco gehört und bezeugt hat: „Ich bin die Jungfrau der Armen“.

Die Armen, das sind immer zuerst die Übersehenen. Papst Franziskus spricht von der Sünde der Gleichgültigkeit. Ich schaue weg, ich denke gar nicht so weit. Ich kann ja doch nichts tun. Ich spüre kein Unrecht dabei. Ach nein, das mute ich mir nicht zu! Mit solchen Gedanken stehen auch wir in der Gefahr, den Kreis zu klein zu ziehen.

Die Texte aus der Heiligen Schrift an diesem Sonntag mahnen ausdrücklich davor:

Der Prophet Amos macht zu seiner Zeit klar, dass eine reiche Oberschicht nicht erkennt, wie sich die Krise längst zusammenbraut: „Weh den Sorglosen auf dem Zion und den Selbstsicheren auf dem Berg von Samária: Ihr liegt auf Betten aus Elfenbein und faulenzt auf euren Polstern. […] Ihr trinkt den Wein aus Opferschalen, ihr salbt euch mit feinsten Ölen aber über den Untergang Josefs sorgt ihr euch nicht“. Wenig später bekam Amos Recht: der Nordstaat Israel wurde von der Großmacht Assur angegriffen und überrannt. Nur der Südstaat Juda blieb vorläufig übrig. „Das Fest der Faulenzer ist nun vorbei“. – Jesus erzählt das Gleichnis vom armen Lazarus, der vor der Tür des Reichen liegt und von ihm übersehen wird. Auch der Reiche zieht den Kreis zu klein: Weder der Hunger, noch die Krankheit, noch die Verwahrlosung auf der Straße gehen ihn etwas an. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, auch nur den Überfluss aus seinem Haushalt dem armen Lazarus zuwenden zu wollen.

Die Erscheinung der Schönen Dame sagt weiter zu Mariette Beco: „Ich komme, das Leid zu lindern.“

Das geschieht hier in Banneux seit bald 100 Jahren. Menschen kommen mit ihrem Leid und der Last ihres Lebens hierher. Sie tragen in sich die Gabe der Hoffnung. Sie ziehen in ihrer Seele den Kreis weiter aus: Sie verlagern sich von ihrem eigenen Schmerz und ihrer Sorge auf Gott, auf die Gnade, auf die Hilfe der Muttergottes.

Wer pilgert, macht sein Leben größer und weiter und tiefer: Aber nicht mit Macht und eigenem Vermögen, sondern mit der Bitte und der Selbstüberlassung an Gott. Wer hier empfängt, muss auch selber wach werden für die Not der Anderen und selber bereit sein zu geben.

Das Gleiche gilt von dem Satz: „Betet viel“, den die Schöne Dame zu Mariette gesagt hat. Beten macht die eigene Enge auf. Viel beten bedeutet: Nicht einmal, nicht irgendwann, sondern beständig, durchgehend soll mein Leben im offenen und weit ausholenden Kreisen sich bewegen, die Gott selbst schenkt und aufbaut. Nie soll etwas geschehen mit mir oder durch mich, das die Weisheit und die Vorsehung Gottes verlassen oder stören will. Immer soll mein Gebet mich einschmiegen und einpassen in den Willen Gottes.

Und auch das weitere Wort der Erscheinung stiftet diesen Zusammenhang, dieses Ineinander unseres Lebens mit dem, was Gott tut: „Glaubt an mich, ich werde an euch glauben“. Wer glaubt, fällt nicht in Sinnlosigkeit und Aussichtslosigkeit. Wer glaubt, vertraut darauf, dass Gott alles, was in mir gut ist und für ihn taugt, in Liebe und Gnade verwendet und für seine Kreise in Umlauf und in Wirkung bringt bei mir selbst und bei anderen.

Ja, glauben ist: Gott ernst nehmen und von ihm ernst genommen sein und das voller Mut und voller Zuversicht. Wie sehr ist gerade dies die Sehnsucht, die die Schöne Dame hier in Banneux in unseren Herzen freilegen will. Sie selbst ist ja die von Gott so sehr ernst Genommene und in Dienst Genommene wie keine andere! Und das sagt sie auch selbst in ihrem letzten Wort an Mariette Beco: „Ich bin die Mutter des Erlösers, die Mutter Gottes“.

Liebe Pilgerinnen und Pilger: „Zieh den Kreis nicht zu klein!“, das Kinderlied soll uns helfen, die Botschaft von Banneux anzunehmen für unsere Zeit. Wieder schauen wir heute wie anfangs der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, als Mariette die Muttergottes erschien, in eine Welt voller Krisen und heraufziehenden Gefahren.

Russlands hat gegen die Ukraine einen Angriffskrieg begonnen und gegen das friedliche Zusammenleben freier Völker in der Europäischen Union: Und das verlangt von uns allen, den Kreis nicht zu klein zu ziehen.

Die Ukraine hat das Recht, sich zu verteidigen. Aber sie verteidigen doch auch uns! Wir ziehen den Kreis nicht zu klein, wenn wir nicht aufhören, um das Ende der Aggression Russlands zu beten und um Frieden und Gerechtigkeit für die Menschen in der Ukraine und in ganz Europa. Auch darum, dass Russland sich bekehrt von der imperialistischen Ideologie der „Russischen Welt“, die es erlaubt, andere anzugreifen und zu unterjochen.

Die europäischen Regierungen, einschließlich unsere, scheinen zu fürchten, dass es durch die wirtschaftlichen Belastungen in unseren Ländern zu Unruhen und Aufruhr kommen kann, dass Energieausfälle und wirtschaftliche Einbrüche den sozialen Frieden gefährden und viele Einzelschicksale bedroht sind.

Wir, Schwestern und Brüder, dürfen den Kreis nicht zu klein ziehen, indem wir Ruhe bewahren, indem wir zu Einschnitten und Verzicht bereit werden, indem wir einander helfen und uns nicht radikalisieren lassen: dann ziehen wir den Kreis nicht zu klein!

Auch daran erinnert uns die Botschaft von Banneux, die uns Deutschen so kostbar ist: Seit Bundeskanzler Adenauer hier in Banneux im Jahre 1960 die Michaelskapelle errichten ließ, beten immer neu Menschen aus Frankreich und aus Deutschland hier um die Aussöhnung ihrer Völker.

Und wir Deutsche haben aus geistlichen Quellen heraus die Kraft gefunden, den himmelschreienden Todsünden des Naziregimes in die Augen zu schauen und die Geschichte unseres Angriffskrieges und die Verbrechen des Völkermords und der Vernichtung der Juden, die durch Deutsche geschehen sind, aufzuarbeiten.

Die Abgründe, in die wir Menschen andere und am Ende immer auch uns selbst stoßen können, sind aus menschlicher Kraft alleine nicht zu überwinden und zu heilen. Kein Mensch kann gegen das Böse aus eigener Kraft antreten. Es braucht die Kraft des Erlösers, es braucht die himmlische Macht Gottes, die der heilige Erzengel Michael uns zukommen lassen will.

Beten wir heute als Deutsche um seine Hilfe, damit das Böse nicht überhandnimmt, sondern vom Thron gestoßen wird, damit Menschenverachtung und Selbstermächtigung zum Überfallen und Töten anderer aufhören! Damit auch Russland sich seiner Geschichte stellt, sie aufarbeitet und sich bekehrt!

Zieh den Kreis nicht zu klein! Abschließend will ich über den größten Kreis sprechen, der uns hier in Banneux an diesem Sonntag neu ins Herz geschrieben wird: Wir hören die Worte des heiligen Apostels Paulus an seinen Schüler Timotheus: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist“.

Pilgern bedeutet: auf den Wegen dieses Lebens unterwegs sein, um darüber hinausgreifen zu lernen und zu wollen.

Es ist ja ein besonderes Kennzeichen unserer Zeit, dass unsere Völker in Westeuropa in einem zunehmenden Säkularismus leben. Das bedeutet: Zum Leben brauche in keinen Gott. Das Leben läuft und läuft gut, was muss ich mich um die Frage nach Gott kümmern? Es ist für mich unwichtig, ob Gott existiert oder nicht.

Jesus macht uns im Gleichnis vom armen Lazarus dagegen zwei Zusammenhänge bewusst, die zu übersehen bedeutet, alles zu verlieren: Das Erste: Alles ist mit dem Jenseits verbunden, alles läuft auf die entscheidende Frage zu: Hast du auf Mose und die Propheten gehört?

Und das Zweite: Wie du hier lebst, ob du für andere lebst, mit anderen teilst, anderen weiterhilfst oder den Kreis zu klein ziehst, das entscheidet mit, wie du im Jenseits ankommst!

Aber, um das glauben zu können, braucht es die Zeugen: Jesus nennt Mose und die Propheten, er selbst ist der größte Zeuge für das ewige Leben, wie Paulus sagt: „Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat und als Zeuge dafür eingetreten ist“.

Und hier in Banneux ist es Maria, die Mutter Gottes, die Jungfrau der Armen, die uns das Zeugnis gibt: Lebe nicht ohne Gott! Lass dich berühren! Lass dich ansprechen! Mache dein Leben auf! Nimm den Glauben an, der von den Zeugen kommt! Gott ist unsichtbar, kein Mensch hat ihn je gesehen, noch vermag ihn je zu sehen, sagt der Apostel. Aber Gott hat sich nicht unbezeugt gelassen. Er hat sich selbst gezeigt und seine ganze Liebe geschenkt in Jesus, dem Sohn der Jungfrau Maria.

Zieh den Kreis nicht zu klein!

Wer nicht glaubt, lebt unter seinen Verhältnissen, selbst wenn er noch sehr im Leben über die Stränge schlägt!

Wer glaubt, lebt in Gottes Kreisen und lernt, sich selbst mehr und mehr zu geben.

Und das verlangt von uns auch immer wieder Entscheidungen, Weichenstellungen, konkrete Vorsätze und Taten: Ergreife das ewige Leben!

Amen.

Amen.

 

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